Wo Russen auf einem anderen Planeten leben

Die kleine Stadt, in der ich war, berichtet der russische Journalist Sergej Netschajew in der Zeitschrift Sowerschenno Sekretno (Streng geheim), ist sehr schön. Sie liegt praktisch an der Grenze zu Kasachstan. Und da es sich um das linke Ufer des Ural handelt, liegt sie in Asien. Am gegenüberliegenden Ufer eines riesigen Stausees, der am Fluss für den Bedarf eines 1958 in Betrieb genommenen Wasserkraftwerks angelegt wurde, liegt Europa – Baschkortostan.

Die Stadt, deren Namen Netschajew nicht nennt, hat 7.000 Einwohnern, früher seien es doppelt so viele gewesen. „Jetzt wird sie kleiner, weil die älteren Menschen sterben und die jüngeren wegziehen, um Arbeit zu finden.“

Aber diejenigen, die blieben, hätten nicht das Gefühl, dass sie leiden, sagt Netschajew. Die Einwohner haben so gut wie kein Geld und müssen sich auf unterschiedlichste Weise durchschlagen. Eine Rentnerin erhalte nach 40 Jahren Arbeit 20.000 oder 25.000 Rubel. Allerdings gebe es nichts, wofür sie es ausgeben könnte.

Es gibt kein Krankenhaus und keine weiterführende Bildungseinrichtung mehr, und viele Freizeiteinrichtungen, die für die Bewohner größerer Städte selbstverständlich sind, stehen nicht zur Verfügung. Die Hälfte der Wohnungen in der Stadt steht leer und wird zu einem Preis angeboten, der in etwa dem entspricht, den man in Moskau für einen einzigen Quadratmeter Wohnraum zahlt. Müll weht durch die Straßen. „Selbst wenn sie Ihren Müll in die Mülleimer werfen, wird er vom Wind verweht, und es ist sinnlos, sich dagegen zu wehren. Also kämpft niemand dagegen an.“

Straßenlaternen und Springbrunnen funktionieren nicht mehr. Aber trotz alledem, sagt der Moskauer Journalist, “ist nicht alles so schlimm”. Stattdessen freuen die Menschen sich über saubere Luft, einen strahlend blauen Himmel und sauberes Wasser.

„Wenn man aus Moskau in die Stadt kommt, ist in den ersten Tagen alles entsetzlich”, sagt er. „Und man möchte aufschreien: Leute, warum seid ihr so? Und warum lebt ihr so schlecht?” Doch mit der Zeit erkenne der Besucher, dass seine erste Reaktion falsch ist. Der Müll zum Beispiel weht durch die Straßen, nicht weil die Menschen schlampig sind, sondern weil ein starker Wind aus der Steppe weht. Aber wichtiger als das sei Folgendes: „Die Menschen in dieser kleinen Stadt sind anders. Sie sind wie Menschen von einem anderen Planeten. Sie haben andere Prioritäten und andere Vorstellungen davon, was gut und was schlecht ist.

Sie lebten ruhig, „sie lesen keine Zeitungen und hören keine Nachrichten über das, was im Land vor sich geht, sie wissen nichts über die Brände in Sibirien oder die Einzelheiten der Militäroperation in der Ukraine, und sie sehen nur fern, um alte Filme” und Talentshows zu sehen.

Ihr Leben spiele sich zu Hause ab, wo sie sich zum Singen versammelten. „Aber sie singen die alten Lieder und kennen keines der Lieder, die die Moskauer jetzt hören. Jeder kennt jeden, und wer Hilfe braucht, braucht nur zu fragen. Es gibt keine Taxis, aber die Menschen in der Stadt können immer jemanden finden, der sie zu einem 55 Kilometer entfernten Arzt oder einem 103 Kilometer entfernten Flughafen fährt.“

Die Bewohner der Stadt interessierten sich nicht für Politik, sie seien nicht deprimiert und beteiligten sich nicht an Protestaktionen. “Und warum sollten sie protestieren? Sie sind mit allem zufrieden.

Jemand könnte einwenden, dass sie zufrieden sind, weil sie nichts haben, womit sie es vergleichen könnten, „so wie es für die meisten zu Sowjetzeiten der Fall war, schreibt Netschajew. Ein Schiguli schien ein großartiges Auto für diejenigen zu sein, die noch nie einen Mercedes oder Toyota gefahren hatten. Und sie hatten gute Schulen und Krankenhäuser und konnten stolz auf die Weltraumerfolge ihres Landes sein.“

In dieser kleinen Stadt, sagt Netschajew, „hatte er plötzlich das Gefühl, dass der Kommunismus, der uns versprochen worden war, so aussehen würde: Glücklich zu sein”, weil die Menschen mit dem zufrieden waren, was sie hatten, und nicht glaubten, sie müssten oder könnten nach mehr streben.

Während seines Besuchs in der Stadt, so der Moskauer Journalist, habe er sich verändert: Er habe aufgehört, fernzusehen und er habe nicht einmal ein französisches Buch gelesen, das er mitgebracht hatte. Und er begann sich zu fragen, ob er alles, was er in Moskau hat, wegwerfen und “für immer in die kleine Stadt auswandern” sollte.

Das tat Netschajew letztlich nicht, er entzog sich dem Sog der kleinen Stadt und lebt dem Vernehmen nach wieder in Moskau.

Quelle: https://www.sovsekretno.ru/articles/pobeda-kommunizma200622/

2022-07-05T16:42:55+00:00