Eine kleine, nicht repräsentative Umfrage unter russischen Freunden und Bekannten.
Philip Cassier, ein Facebook-Freund, stellte mir dieser Tage eine diffizile Frage:
Haben Sie eigentlich eine Idee, warum die Russen wirtschaftlich immer wieder total versagen? Am Erbe des Sozialismus’ allein kann’s ja nicht liegen, wie das Beispiel China zeigt.
Im Versuch, diese Frage zu beantworten, sind weltweit vermutlich Hunderte Bücher geschrieben worden. Ich habe mich auch deshalb vor der Beantwortung der Frage „gedrückt“ und sie stattdessen an Freunde und Bekannte in Russland delegiert. Das Ergebnis ist natürlich keinesfalls repräsentativ, erlaubt aber einen wenn auch kleinen, aber interessanten Einblick in Denkweisen im Herrschaftsbereich von Wladimir Putin.
Olga Korobzewa, Moskau: In der Ökonomie macht sich deutlich bemerkbar, dass eine Verschmelzung zwischen den Herrschenden und dem Business erfolgt ist. Der Verkauf von Erdöl erfordert keine wirtschaftliche Entwicklung im Lande. Das Wichtigste für die Machthaber besteht darin, das Kapital in ihren Händen zu konzentrieren. Eine Gefahr sehen sie lediglich in orangenen Revolutionen, die ihrer Vorstellung nach vom Ausland organisiert werden.
Wladimir Maschatin, ehemaliger Fotokorrespondent der Moskauer Zeitung „Nowyje Iswetija“, lebt in Massachusetts: Russen in den USA – das bedeutet fantastisches Business, ökonomischer Erfolg! Gerade die Russen sind mit ihren Wirtschaftsprojekten in Amerika sehr erfolgreich, es gibt einen russischen Esprit. Alles hängt vom Boden, von der Erde ab, in die man die das Samenkorn der Wirtschaftsidee einbringt. Russland war immer ein Sumpf, mit Ausnahme der schlimmen 1990er Jahre. Das ist mein Gefühl. Ich empfehle in diesem Zusammenhang, den russischen Wirtschaftswissenschaftler Konstantin Solonin zu befragen.
Konstantin Solonin, Wissenschaftler, Moskau. Angesichts der seit 2009 anhaltenden Stagnation der russischen Wirtschaft (durchschnittlich 0,9 Prozent jährliches Wachstum) fordert Solonin der Moskauer Zeitung „Wedomosti“ zufolge: Russland braucht wirtschaftliche und – das ist die Hauptsache – politische Reformen. Russland muss sich aus der Ukraine zurückziehen und damit die Aufhebung der Sanktionen erreichen, d. h. sich in die Weltwirtschaft integrieren. Ohne diese politischen Reformen wird es unmöglich sein, eine blühende russische Wirtschaft aufzubauen.
Denis Perepelitsin, Journalist, lebt in St. Petersburg: Die Frage ist sehr allgemein und deshalb nicht korrekt. Mehr noch, sie ist manipulativ. Möge derjenige, er die Frage gestellt hat, die Kriterien benennen, nach denen er „Erfolglosigkeit“ bemisst. – Meiner Meinung nach besteht der grundlegende Nichterfolg in der Abhängigkeit vom Export von Erdöl und Erdgas, obwohl das Land über ein gewaltiges Potenzial beispielsweise im IT-Bereich verfügt. Zu den Erfolgen gehört, dass das Land zum größten Getreideexporteur wurde und sich das allgemeine Lebens erhöht hat. Das größte Minus indes besteht darin, dass der Staat keine klaren Spielregeln für das Business hat. Der Staat kann in jedem Augenblick die Regeln ändern, indem er „das Schachbrett umdreht“. Soweit ganz kurz.
Igor Andrejew, ehemaliger Journalist, Rentner aus Moskau: Vor allem haben alle Menschen im sowjetischen „Sozialismus“ von Anfang an ihren Unternehmungsgeist verloren, sie haben verlernt zu konkurrieren, verfielen in Apathie, weil sie keine Ergebnisse ihrer Anstrengungen sahen. Die Chinesen bei all ihrer Hingabe zur kommunistischen Ideologie fördern die Konkurrenz und das Prinzip „gearbeitet – verdient“. Und das führte in einem Land arbeitsliebender Menschen zum Aufblühen der Gesellschaft. Warum klappt das in Russland nicht? Weil Russland für immer technologisch hinter der zivilisierten Welt zurückgeblieben ist. Weil die Konkurrenz nicht funktioniert. Weil das private Unternehmertum unter sehr schwierigen Bedingungen agiert. Das betrifft die Kreditvergabe durch die Banken, die rechtlichen Beschränkungen, die Herrschaft der Monopole, den Druck von Seiten des Staates. Und natürlich die absolut überall herrschende Korruption.
Natalja Gontscharowa, Werbefachfrau, Moskau: Es gibt keine Rechtsstaatlichkeit und als Folge findet Diebstahl auf staatlicher Ebene in exorbitantem Ausmaß statt. Das kann man nur auf eine Art stoppen: durch die Wiedereinführung der Todesstrafe. Nur so kann man einen Teil der Wirtschaft wieder in einen normalen Zustand zurückführen. Zur Macht in Russland: Die Autokratie in Russland ist nicht auszurotten. Sie war, sie ist und sie wird auch künftig sein. Die Machthaber, wie auch immer sie sich nennen mögen, klammern sich bis zum Letzten an die Herrschaft und unterdrücken ihr Volk. Niemals hat man in Russland gut gelebt. Russland ist das Land der Sklaven, das Land der Herren, daher auch die Revolutionen. Nach jeder Revolution schlägt die neue Herrschaftsschicht wieder den alten Weg ein, bis zur nächsten Revolution. Es geht immer im Kreise. Mir scheint, darin besteht der besondere Weg Russlands.
China hat es geschafft, weil Beamte wegen Diebstahls hingerichtet werden. Und sie haben ein Wirtschaftsmodell geschaffen, das auf den privaten Konsum ausgerichtet ist. Zudem gibt es dort im Gegensatz zu Russland eine Mittelklasse.
Fatima Tlis, Journalistin aus Naltschik, jetzt Washington: Meine Diagnose ist kurz: Korruption. Wahrscheinlich verstehen nur wenige Außenstehende die tatsächlichen Auswirkungen der Korruption auf staatliche und wirtschaftliche Strukturen. Wenn der Präsident eines Landes von einem kleinen KGB-Mann zum reichsten Mann der Welt (Forbes) aufsteigt, veruntreut er offenbar den Reichtum des Volkes, was seine Untergebenen tun, und so weiter bis nach unten. Auch in der Wirtschaft. Schmiergelder, Bestechungsgelder, Diebstahl. Ökonomen, wie jeder andere auch, kaufen Abschlüsse und Positionen.
Maxim Kashulinsky, Journalist, Moskau: Warum Russland keinen ökonomischen Erfolg hat? Die Antwort ist einfach: niemand braucht ihn. Die Bevölkerung lebt schlecht, aber gleichzeitig besser als im gesamten 20. Jahrhundert. Die Propaganda ignoriert gekonnt das Thema eines nachhaltigen Wirtschaftsaufschwungs, indem sie das Thema des russischen Einflusses in der Welt und der zunehmenden „Achtung“ gegenüber Russland nach vorne schiebt. Sie spielt dabei mit Gefühlen der Verbitterung. Gleichzeitig erzielen die Eliten Supergewinne, während sie damit beschäftigt sind, ihre Situation zu bewahren – darunter auch die Erhaltung der Macht. Die Eliten sehen keine Notwendigkeit, das Wirtschaftswachstum zu befördern: das gegenwärtige Modell stellt sie völlig zufrieden. In absehbarer Zukunft – solange es eine Nachfrage nach russischen Exportgütern gibt – sind sie nicht gefährdet. Eine wirtschaftliche Entwicklung würde die Heranziehung von neuem, vor allem ausländischem Kapital erfordern – dies würde die Position der derzeitigen Eliten nur untergraben. Es überrascht nicht, dass die Auslandsinvestitionen inzwischen wieder auf das Niveau von 1994 zurückgegangen sind. (https://www.rbc.ru/economics/19/01/2021/6006e0609a79472ba73d18f2)
Das Handeln der Eliten könnte durch demokratische Institutionen – das Parlament und unabhängige Medien – beeinflusst werden. Aber die gibt es nicht: Das russische Parlament und die großen Medien sind ebenso Teil der Elite, die alle ihren Anteil an den Superprofiten erhalten.
Ibrahim Chuash, tscherkessischer Menschenrechtler, Naltschik: Das erste, was mir in den Sinn kommt, ist die Korruption, die sehr verbreitet ist. Höchstwahrscheinlich liegt es auch an der Denkweise der Menschen. Denn jeder Beamte, der eine bestimmte Position erreicht, macht sich keine Gedanken über seine Aufgabe, sondern denkt nur daran, wie er sich selbst und die ihm Nahestehenden reich machen kann. Das System fordert das von ihm. Denn der Beamte weiß, dass der in der Hierarchie Höherstehende am Ende des Monates von ihm sein Anteil fordern wird.