Russland im September 2022

Reise nach Moskau

 

Was, zum Teufel, willst du in dieser Zeit in Moskau? Fragtе mich ein FB-Freund empört, als er das Foto von meiner Ankunft in Scheremetjewo sah. Er hatte nicht unrecht. Wer sollte ausgerechnet in dieser Zeit, Mitte September, da das Putin-Regime einen Angriffskrieg in der Ukraine führt und eine große Mehrheit der Russländer das begrüßt oder zumindest schweigend hinnimmt, eine Reise nach Moskau unternehmen? Die Antwort: es gibt Menschen in Russland, die mir nahestehen und deren Meinung mir wichtig ist. Ich bin zum Zuhören hingefahren. Beim Aufschreiben – nun schon wieder zu Hause – stieß ich indes auf ein Problem. Wir führten an den Küchentischen sehr offene Gespräch, doch meine Gesprächspartner baten mich, sie nicht beim Namen zu nennen oder sie wörtlich zu zitieren. Die Sorge, auf irgendeine Art ins Visier der hyperaktiven Geheimdienste zu geraten, ist groß. Ich habe mich deshalb zu einer weitgehenden Anonymisierung entschieden. Ich will vermeiden, dass die Meinungen, die ich hier wiedergebe, auf konkrete Personen zurückgeführt werden können. Die Zeiten im „freien Land“ Russland (O-Ton Expräsident Medwedjew) sind bedrückend und erfordern besondere Schutzmaßnahmen für die Privatsphäre vor allem der dort Lebenden. Und noch eine Klarstellung: Meine Reise fand vor der sogenannten Teilmobilisierung vom 21. September statt, die die Gesamtsituation in Russland noch einmal gründlich veränderte.

 

Scheremetjewo I

Еin Freund noch aus Perestroika-Zeiten holte mich vom Flughafen ab, der früher Scheremetjewo I hieß und damals ein heruntergekommener Inlandsflugplatz war. Der wurde in den vergangenen Jahren in einen erstaunlich modernen Airport mit mehreren Terminals verwandelt, dessen Vielfalt selbst einen gestandenen Moskauer verwirrt. Wir brauchten zwei Stunden, um den geparkten Wagen wiederzufinden. Richtung Zentrum ging es dann auf einer neuen Maut-Autobahn, die zumindest auf diesem Abschnitt die berüchtigten Staus verhinderte. In gewaltigen Betonschleifen winden sich Zu- und Abfahrten über die Trasse. „Wenn man das so sieht, könnte man meinen, Moskau sei eine moderne Stadt im 21. Jahrhundert“, kommentierte mein Fahrer das Gesamtbild. „Aber dieses Land führt einen Krieg, den äußerlich kaum jemand wahrnimmt. Einen Krieg, der dumm, unnütz und verbrecherisch ist.“ Deprimiert schüttelt er seinen Kopf. Beinahe hätte er die Ausfahrt auf den MKAD verpasst, den 110 Kilometer langen Autobahnring, der Moskau umschließt.

Hier war der Verkehr wieder so, wie ich ihn gewohnt war. Immer wieder hielten Staus uns auf, allerdings nur von geringer Länge. Wer an diesem Abend – es war Sonnabend gegen sieben Uhr abends – in der Gegenrichtung unterwegs war, brauchte sehr viel Geduld. Die fünf Spuren auf der Innenseite des MKAD waren auf mehrere Kilometer total verstopft.

Bürokratische Querelen

Bis kurz vor der Abreise war ich mir nicht sicher, ob ich das Touristen-Visum zum Besuch Russlands überhaupt bekommen würde. Die Ungewissheit rührte daher, dass ich – abgesehen von meiner Vorgeschichte als ungeliebter Korrespondent in Moskau – gerade ein Buch geschrieben hatte, dass sich mit Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine befasste („Russland. Ukrainekrieg und Weltmachtambitionen“). Ein Freund wollte drei Exemplare mit nach Moskau nehmen, sie verschwanden aus seinem Koffer. In Moskau wurde daraufhin gewettet, ob ich ein Visum bekommen würde. Einer meiner Freunde wettete dagegen und verlor hundert Euro, als es dann wider Erwarten doch klappte.

Ich bekam also das Visum, es konnte losgehen: Mit dem Kleinbus von Berlin nach Kaliningrad, von dort per Inlandsflug nach Moskau. Bei der Einreise von Polen ins Gebiet Kaliningrad erhielt ich von den russischen Grenzern, wie jeder Ausländer, eine sogenannte Migrationskarte. Auf der waren noch einmal die Angaben vermerkt, die auch im Pass und im darin eingeklebten Visum standen. Diesen losen Zettel galt es bis zur Ausreise zu hüten, wie seinen Augapfel, sonst drohte Ärger.

Vor dem Theater der russischen Armee

 

 

 

 

Damit nicht genug, in Moskau war eine Registrierung bei den Behörden fällig. Die mussten meine Gastgeber im Multifunktions-Zentrum ihres Wohnbezirks beantragen. Auf vier DIN-A-4-Blättern mussten per Hand alle Personalangaben der gastgebenden Familie und noch einmal meine Daten eingetragen werden. Mit diesen Papieren und den Pässen traten wir vor die Sachbearbeiterin, die alsbald eine bemerkenswerte Aktivität entfaltete. Da wurde kopiert, gescannt, Kopien wurden hin- und hergetragen, dass es eine Art hatte. Die junge Frau blieb dabei stets freundlich, auf ihrer Bluse trug sie einen Button mit der Aufschrift „Wir gehören zur Mannschaft des Bürgermeisters“. Die bevorstehenden Kommunalwahlen warfen ihr Schatten voraus.

Nach 40 Minuten durften mein Gastgeber und ich unterschreiben. Ich erhielt ein Papier, aus dem hervorging, wie lange ich unter der angegebenen Adresse zu verweilen und wann ich wieder auszureisen gedachte. Auch dieses Papier musste ich stets bei mir tragen und bei der Ausreise an der Grenze abgeben. Als Beleg dafür, dass Quiring da war und wieder abgereist ist. Visum und Ein- und Ausreisestempel der Grenzbeamten reichten dafür offenbar nicht aus.

Das Amt erhielt dafür im Gegenzug Kopien jeder einzelnen Seite meines Passes sowie etliche Kopien aller Antragsdokumente. Obwohl das alles gescannt worden war und damit digital vorhanden war. Doch das Vertrauen in das Papier ist offenbar größer, ordentlich sortierte Schubladen nahmen die Blätter auf, vermutlich für nachfolgende Generationen. Bürgermeister Sobjanin ist es gelungen, einen sinnlosen bürokratischen Akt effektiv und freundlich zu gestalten.

Das Papier der Registrierungsbehörde sowie die Migrationskarte schob ich bei der Ausreise zusammen mit dem Pass durch eine Luke zu einem schweigenden Grenzbeamten hinter geschwärzter Scheibe. Nach einer Weile hörte ich Stempelgeräusche, der Pass, nun ohne die Papiereinlagen, wurde mir zugeschoben. Ich durfte das Land verlassen. Wortlos.

Verdrängte Realität

Russland führt Krieg und keiner schaut hin. Diesen Eindruck hatte ich, als ich zunächst in Kaliningrad (einst Königsberg) einreiste und dann in Moskau ankam. Lediglich ein paar überlebensgroße Porträts junger Offiziere mit der Aufschrift „Ruhm den Helden Russlands“ (siehe Foto unten) waren vereinzelt im Stadtbild zu sehen. Ansonsten schien das Leben seinen ungestörten Gang zu gehen. Unklar blieb, warum die patriotischen Plakate platziert worden waren. Der Zusammenhang mit der „Militäroperation“ in der Ukraine lag nahe, wurde aber nirgendwo benannt. Hatten die Offiziere dort militärische Heldentaten vollbracht? Waren sie in der Ukraine gefallen? Keine Antwort auf diese Fragen.

 

Moskau gab sich zivil. Bei näherem Hinsehen fielen freilich etliche geschlossenen Geschäfte auf, deren Schaufenster verhängt und mit dem Hinweis „Geschlossen wegen Renovierung“ versehen waren. Im Einkaufszentrum „Jewropejskij“ am Kiewer Bahnhof ähnliche Bilder, wohl deshalb ist die Zahl der Kunden, die sich in früheren Jahren in den Gängen drängten, überaus überschaubar geworden. Immerhin – eine Kosmetik-Firma KIKO aus Mailand ist optimistisch und kündigt die „baldige Eröffnung“ an.

Selbst auf dem berühmten Kutusow-Prospekt fehlen einige der einstigen Nobel-Geschäfte. An einer Stelle hatte stattdessen eine üppig ausgestattete Reinigung eröffnet. Ein schwarzer Lexus rollt auf dem Gehweg heran. Der Fahrer trägt ein großes Paket, vermutlich die Schmutzwäsche seiner Herrschaft, in die Reinigung. Eine Szene wie aus einem amerikanischen Mafia-Film.

In der Wäscheannahme gibt es ein winziges Café. Dorthin hat mich eine ehemalige Kollegin eingeladen, damit wir ungestört reden konnten. Im Office, so meinte sie, sei das inzwischen unmöglich geworden. Ich komme mir in dem Café wie in einer sowjetischen „roten Ecke“ vor: Plakate aus jener Zeit, jetzt allerdings mit den russischen Nationalfarben, zeigen beispielsweise eine entschlossene Frau und Mutter, die eindrücklich „Frieden“ fordert. Auf einer anderen Reproduktion hält ein offenherzig blickender russischer Arbeiter dem zitternden US-Kapitalisten einen Vertrag zur Unterschrift hin: „Die Völker der Welt warten“ (siehe Foto unten). Die verlogenen Werke der Kukryniksy, einer mit dem Stalin-Preis bedachten sowjetischen Karikaturisten-Gruppe, werden längst wieder gebraucht.

 

 

 

Gespräche am Küchentisch

Ankunft auf der Datscha im Südosten von Moskau. Ein üppiges Abendessen wartet bereits, der Wodka ist eisgekühlt. Ich war vor drei Jahren, Corona-bedingt, zum letzten Mal hier. Entsprechend herzlich ist das Wiedersehen. Ich fühle mich zu Hause.

Doch an diesem Abend schwebt über allem das Gespenst eines blutigen Krieges, den in dieser Runde jeder verabscheut. Illusionen darüber, dass die „militärische Operation“, wie der Krieg gegen die Ukraine offiziell genannt werden muss, siegreich für Russland und sehr kurz sein werde, machte sich hier von Anfang an niemand. Dragan, illusionslos und gut vernetzt in der GUS, brachte seinen wehrdienstfähigen Sohn schon am Tag nach Kriegsbeginn nach Kasachstan. Dorthin reicht der lange Arm des russischen „Wojenkomat“ nicht. Mit der jetzt verfügten Mobilisierung fühlt er sich in seiner Weitsicht bestätigt. Auch wenn sein Sohn zunächst als Student vielleicht nicht betroffen wäre, bleibt er zutiefst misstrauisch. „Wer weiß, was sie sich sonst noch einfallen lassen“, sagt er und lässt den Sohn in Kasachstan. Eine weise Entscheidung, wie man später erkennen konnte. Die Einberufungen erfolgten chaotisch und willkürlich.

Der Krieg in der Ukraine, so sieht man es hier, diene lediglich dem Machterhalt des Herrn im Kreml. Man nennt Putin ironisch „nasch garant“, „unseren Garanten“ der Verfassung. Die lässt der „Garant“ indes nach Belieben umschreiben oder ignoriert sie einfach. Das Papier, auf dem Verfassung und Gesetze stehen, hat, wie es einmal ein sachkundiger deutscher Diplomat formulierte, außerhalb des Moskauer Autobahnrings nur noch Empfehlungscharakter. Inzwischen gilt auch innerhalb des Autobahnrings vorwiegend das gebrochene Wort „des Garanten“, der die Tatsachen verdreht, lügt oder seinen früher geäußerten eigenen Worten widerspricht. Nicht vergessen sind auch seine wiederholten Drohungen mit Atomwaffen. Ebenso wenig seine zynische Bemerkung, sollte die Welt in einem nuklearen Inferno untergehen, kämen die Russen in den Himmel, während der Westen „ohne Erbarmen in die Hölle fährt“.

Inzwischen, so erzählen meine Freunde, glauben viele ihrer Landsleute, dass die Ukraine Russland überfallen hat, und nicht umgekehrt. Die Propagandalüge, der Westen, die Nato, die USA – im russischen Politjargon „der kollektive Westen“ – wollten Russland zerstören und seine Reichtümer stehlen, gilt vielen Russen als Tatsache. Nur wenige Tage nach meiner Rückkehr nach Hause wird Russlands Außenminister Sergej Lawrow in der UN-Vollversammlung den Westen beschuldigen, er wolle Russland nicht nur „eine militärische Niederlage” zufügen”, sondern es „zerstören und zerstückeln“.

Lisa, eine gute alte Bekannte, hat sehr viel mit Deutschen und deutschen Informationsquellen zu tun. Sie kennt die Debatten in Deutschland über den Krieg, den ihr Land in der Ukraine führt, und ist entsetzt. „Ich kann das Gerede bei euch von einem Interessenausgleich, von einem Entgegenkommen gegenüber dem Kreml, um so Frieden zu schaffen, nicht mehr hören. Friedensverhandlungen? Das will im Kreml niemand. Warum begreifen die Deutschen nicht, dass Putin keinen Kompromiss sucht? Er will alles. Und je mehr ihm nachgegeben wird, umso mehr verlangt er. Nein, Putin braucht entschlossenen Widerstand.“

Dubrowizy – ein Bojarensitz

 

Dubrowizy, der einstige Adelssitz am Zusammenfluss von Paskha und Desna, ist verbunden mit den Namen bekannter russischer Adliger, die hier zeitweilig lebten: zunächst der Bojar Morosow, später die Fürsten Golizyn und Potjomkin. Berühmt ist der Ort bis heute wegen seiner in der russisch-orthodoxen Welt wohl einmaligen Kirche. Sie wurde in den 1690er Jahren gebaut und stellt eine Mischung aus orthodoxer Architektur und westlich-barocken Elementen dar. Heraus kam eine für meine Begriffe ausgeprägte Geschmacklosigkeit. Da half es auch nicht, dass sie 1704 im Beisein von Zar Peter I. geweiht wurde.

Für die Menschen aus der näheren und ferneren Umgebung ist das Bauwerk dennoch ein beliebter Ort, an dem sich Hochzeitspaare an den Wochenenden gern fotografieren lassen. Besonders an sonnigen Tagen herrscht lebhaftes Treiben. Die Paare kommen offenbar vorwiegend aus ländlichen Gegenden. Der Leibes- und Schenkelumfang der Bräute lässt die Lust an leiblichen Genüssen ahnen. Buntes Brokatgewebe umspannt wulstiges Fleisch. Die Bräutigame wirkten neben ihren Angetrauten wie unmündige Knaben. Begleitet wurden sie sonderbarerweise vielfach von sehr dünnen Freundinnen, deren stark geschminkte Gesichter offenbar die fehlende Leibesfülle etwas ausgleichen sollten.

Zwei Kosaken am Eingang zum Kirchengelände haben ein gelassen-wachsames Auge auf das Treiben. Sie tragen ihre Uniformen mit Würde, die Nagajka, die geflochtene Lederpeitsche, hängt an ihren Gürteln. Im hinteren Teil des Parks springt ein Zehn-, Zwölfjähriger mit einer Spielzeug-Kalaschnikow zwischen den festlich gekleideten Besuchern herum und spielt Krieg. Gebückt schleicht er sich durch die Hochzeitspaare, hockt sich hinter einen Felsblock und meldet einem imaginären Führungsstab eifrig „große Ansammlungen des Gegners“. Die abendlichen TV-Sendungen bestätigen, was der wachsame Knabe empfindet: Wir sind von Feinden umgeben.

 

 

 

 

Die schwarzen Kanäle

Wenn ich abends einen Blick ins die russischen TV-Nachrichtenprogramme werfen wollte, erntete ich Protest: Das schauen wir schon lange nicht mehr! Kremlkritische Russländer wissen, dass dort statt Informationen weitgehend Propaganda geboten wird. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich um die großen Regierungssender oder private Kanäle handelt. Alle haben sich der vom Kreml vorgegebenen Linie zu unterwerfen, die Putins „graue Eminenz“ für die russischen Medien, Alexej Gromow, allwöchentlich den Chefs der großen Sender in die Notizbücher diktiert.

Hauptheld der alltäglichen „politischen Berichterstattung“, die nichts anderes ist als ein technisch aufwendig gestalteter Personenkult in bunten Bildern, ist natürlich der Kremlchef selbst. Aus den russischen Nachrichtensendungen in den beiden Wochen meines Aufenthalts erfuhr ich, wie kaltblütig und überlegen der Kremlchef allen „Provokationen“ der Nato begegnet. Sein Auftritt in Samarkand anlässlich des Treffens der Mitglieder der Schanghaier Sicherheitsorganisation bewies angeblich, dass von einer internationalen Isolation Russlands keine Rede sein könne.

Das russische Fernsehen war auch bei einem Treffen von „Djadja Wanja“ (Onkel Wanja – Bezeichnung Putins in einem nationalitichen Kinderlied) mit Schulkindern in Kaliningrad dabei, als er der Welt eine überraschende Erkenntnis mitteilte: Nicht Japan sei das Land der aufgehenden Sonne, dieser Titel stehe Russland zu. Schließlich besitze es Gebiete, die viel weiter östlich als die japanischen Territorien lägen. Zu einer gewaltigen Show wurde eine angeblich aus dem Donbass gesendete Jubelfeier anlässlich des Jahrestages der Befreiung der Region von den Hitlertruppen 1943. Niemand hatte Zweifel daran, dass eigentlich die “Befreiung” des Donbass von der “Unterdrückung durch die Ukrfaschisten” gemeint war (siehe unten).

Genauso wichtig ist die Rolle der russischen Nachrichtensender, wenn es ums Verschweigen geht. Von der eklatanten Niederlage, die die ukrainischen Truppen dem russischen Militär bei Charkiv Anfang Juli beigebracht haben, erfuhr der einheimische TV-Zuschauer nichts.

Auf gleich vier verschiedenen Kanälen kann sich der russische Patriot der militärischen und militär-historischen Thematik hingeben. „Swesda“ (der Stern) berichtet täglich 24 Stunden aus dem Leben der Armee, Die Kanäle „Tag des Sieges“ und „Der Sieg“ zeigen auf die heutigen Interessen zurechtgeschnittene Dokumentationen und Spielfilme ohne Ende. „Arsenal“ schließlich singt das Liede von der Überlegenheit der russischen Waffentechnik.

Geradezu unerträglich sind die zahlreichen sogenannten Talk-Shows, in der Pseudo-Politologen immer die gleichen Themen durchhecheln, wobei die Teilnehmer sprachlich oft in einen Hinterhofjargon verfallen. Hauptthemen sind der „kollektive Westen“, der uns zerstören und unsere Reichtümer rauben will, der „kollektive Westen“, der vor uns zittert, die Ukraine, die demnächst über uns hergefallen wäre, weshalb wir ihr zuvorkommen mussten, und wir sie deshalb jetzt unterwerfen müssen. Obwohl sie vor Jahresfrist noch unsere slawischen Brüder waren, nun aber zu „Ukrfaschisten“ geworden sind. Widersprüche in den Argumentationen spielen keine Rolle, die Lautstärke entscheidet.

Dem allen entziehen sich viele TV-Zuschauer, indem sie das reichhaltige und politikfreie Unterhaltungsangebot konsumieren: Komödien und Krimi-Serien, oft mit sehr brutalen Szenen. Für Animationsfilme gibt es einen eigenen Kanal. Beliebt sind alte sowjetische Spielfilme, die gern gemischt werden mit US-Filmen aus der C-Kiste.

Monolog eines Freundes

„Unser größtes Unglück, das uns als Land ruinieren könnte, ist der anhaltende Bürgerkrieg. Große Massen von Menschen glauben, dass alles richtig ist, was der Kreml befiehlt und ziehen sogar freiwillig in den Krieg. Der andere Teil ist überzeugt, dass die Regierung ein Verbrechen begeht. Das ist es, was Russland zu sprengen droht, nicht die Gefahr eines Atomkriegs.

Dabei besteht die Auseinandersetzung nicht unbedingt in einem Kampf gleichstarker Gegner. Es wird darauf hinauslaufen, die Andersdenkenden einfach zu verprügeln. Das ist natürlich nicht durch Gesetze abgedeckt. Es kann zu einer totalen Destabilisierung des Staates kommen.

Der jüngste Erlass zur Mobilisierung (dieser Teil des Monologs wurde mir nach meinem Besuch in Moskau zugeschickt) ist nur die neueste Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte. Ich erinnere mich noch gut an meine Reaktion darauf, dass die russische Nationalhymne fast unverändert beibehalten wurde. Im Vergleich zur stalinistischen Version wurden nur ein paar Wörter geändert. Es erwies sich als ein sehr symbolisches Zeichen für die kommenden Zeiten.

Ich bin sicher, dass die seit langem bestehende Spaltung der Gesellschaft in grundlegenden Fragen schon lange herangereift ist, aber heute ein gefährliches Niveau erreicht hat. Gott bewahre, wenn es kritisch wird. Mein Hauptpunkt ist folgender: Die Gefahr für uns liegt in uns selbst. Wir haben die Chance, die uns die Perestroika geboten hat, einfach vertan.“

Keine Sorge, der Mann im Foto unten schläft nur.

 

2023-09-01T13:24:42+00:00