Putins Geschichtsklitterung und Alys Beitrag

Dies ist der bislang wohl umfangreichste Versuch des zum Historiker mutierten Kremlchefs Wladimir Putin, die sowjetische Führung von ihrer Mitverantwortung am Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 freizusprechen, der Geschichtsschreibung seine Version des Zweiten Weltkriegs aufzudrücken und aktuelle Machtansprüche anzumelden: Vladimir Putin: The Real Lessons of the 75th Anniversary of World War II  in National Interest, 18. 6. 2020. Götz Aly, ein angesehener Historiker mit einer Sehschwäche auf seinem “russischen Auge”, ist dem Kremlchef in einer Kolumne der Berliner Zeitung  vom 6.7.2020 beigesprungen.

Mit einem Taschenspielertrick verlegt Putin das auslösende Moment für den Krieg und den kurz zuvor abgeschlossenen Molotow-Ribbentrop-Pakt ins Jahr 1938 nach München, wo ein in der Tat schändliches Abkommen zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien letztlich das Schicksal der Tschechoslowakei besiegelt. Damit sei Stalin 1939 gar nichts anderes übriggeblieben, als einen Pakt mit Hitler zu schließen. Putin greift damit zurück auf die stalinschen Argumentationen, die in den Parteilehrjahren der KPdSU und auch der SED nicht anzuzweifelnde Glaubenssätze darstellten. Sie sind etwa so wahr, wie Putins Behauptung, Hitler sei ein gerngesehener Gast in westeuropäischen Hauptstädten gewesen. Wahr ist: der deutsche Diktator hat außer Wien nie eine andere Metropole besucht. Auch wurde und wird in Westeuropa das Münchner Abkommen im Gegensatz zu Putins Behauptung keineswegs verschwiegen, sondern ist Gegenstand breitester historischer Forschungen. Kein ernsthafter westlicher Politiker findet heute ein gutes Haar am Münchner Appeasement.

Wahr ist dagegen, dass erst der Molotow-Ribbentrop-Pakt mit seinen verachtungswürdigen geheimen Zusatzprotokollen Hitler den Weg freimachte zum Überfall auf Polen mit allen daraus erwachsenen Folgen. Dieser Pakt befreite Hitler von der Furcht, in einen Zweifrontenkrieg zu geraten, den er fürchtete wie der Teufel das Weihwasser. Es darf die Frage gestellt werden, wie sich die Geschichte Europas verlaufen wäre, wenn Moskau auf diesen Pakt, angeblich geboren aus Demütigung, verzichtet und stattdessen die Konfrontation mit dem so verhassten deutschen Nationalsozialismus gesucht hätte.

Götz Aly ist auch da ganz bei Putin, auch wenn er offenbar ein Unwohlsein verspürt. Sein Versuch, dem Kremlchef in dieser Sache beizuspringen, gerät gründlich daneben. Der 1989 noch existierende Oberste Sowjet hatte damals den Pakt verurteilt. Putin habe das aufgegriffen und festgestellt, dass „die Geheimprotokolle als ‚Akt der persönlichen Macht‘ [Stalins] offiziell verurteilt, der in keiner Weise den Willen des sowjetischen Volkes widerspiegelt, das nicht für diese Absprache verantwortlich ist.“ Warum, so fragt Aly absichtsvoll, „bleibt diese Passage in unseren Medien fast durchweg unerwähnt?“

Die Antwort: Putin selbst hat dies Äußerung entwertet, indem er bei mehreren späteren Anlässen die alten Stalin-“Argumente“ wieder hervorkramte und von seiner einstigen Meinung abwichen. Der neueste Artikel in „National Interest“ ist der beste Beleg dafür. Dass Putin früher einmal anderer Meinung war, ist heute ein Muster ohne Wert.

Reden wir von Demütigung. Aly hat sich das Narrativ des Kremls, das dort als Banner geschwenkt wird, zu eigen gemacht. Schon in den 1930er Jahren sei die Sowjetunion permanent von den westlichen Staaten erniedrigt und gedemütigt worden.Mir fehlt da der Hinweis auf die Tatsache, dass bereits in den 1920er Jahren Reichswehr und Rote Armee eng kooperierten. Mit einer kurzen Unterbrechung in den 1930ern. Noch 1940 war General Guderian Gasthörer an der Moskauer Panzerakademie.

Problemlos folgt Aly der Erzählung Putins, der die Parallelen zwischen dem „gedemütigten“ Deutschen Reich und der angeblichen „Erniedrigung“ Russlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zieht. Eine Demütigung, die unter anderem in mindestens 50 Milliarden US-Dollar bestand, die im Verlaufe der 1990er Jahre nach Russland flossen. Eine Demütigung, die in den nicht immer sehr erfolgreichen Versuchen bestand, Russland auf den Beinen zu halten. Weltbank und IWF waren regelmäßig in Moskau, um dem hoch verschuldeten Russland hilfreich unter die Arme zu greifen. Auch die Atomwaffen, von denen rund 15 Prozent in der unabhängig gewordenen Ukraine verblieben waren, kehrten nach Russland zurück. Eine Aktion, die die USA mit mindestens drei weiteren Milliarden US-Dollar bezahlten. Wer mag, kann auch das als Demütigung auffassen.

Aly hat allerdings den Hintergrund der Moskauer Forderung „Hört endlich auf, Russland zu demütigen“ ganz richtig verstanden. Putin warnt indirekt vor dem möglichen Auftreten extremer Kräfte in seinem Lande als Folge des Verhaltens des Westens. Der Extremist Wladimir Schirinowski liefert schon lange die Begleitmusik, indem er europäische Länder mit Atmbombenabwürfen bedroht oder generell verbreitet, man könne “das”, nämlich den Einmarsch in Berlin, wiederholen. Putins Anspielung darauf ist zwar demagogisch, zugleich aber auch ein Erpressungsversuch. Aly hätte das auch so sagen sollen.

Was Putin tatsächlich umtreibt, verriet der Kremlchef der BILD-Zeitung schon vor vier Jahren (Interview vom 11. 1. 2016). Zwar habe jeder Staat das Recht, „seine Sicherheit so zu organisieren, wie er das für richtig hält“, sagte er. Aber die Nato-Mitglieder hätten ja „auf eine Expansion nach Osten verzichten können“. Das taten sie nicht, beklagte sich Putin. „Die Nato und die USA wollten allein auf dem Thron in Europa sitzen – aber da sitzen sie nun, und wir reden über die ganzen Krisen, die wir sonst nicht hätten.“ Lasst uns mit auf den Thron, dann gibt’s auch keine Krisen mehr. Und die osteuropäischen Staaten, die schon einmal 45 Jahre unter von Moskau installierten Rgimes leben durften, hätten die Chance auf Rückkehr der “eingeschränkten Souveränität”, wie Breschnew sie mochte.

Der jetzt von Putin angestrebte Fünfer-Gipfel, an dem neben Russland auch China, Frankreich, die Vereinigten Staaten und Großbritannien teilnehmen sollen, ist ein anderer Versuch, sich mit Hilfe dieser Länder wieder auf den Thron zu schwingen, praktisch Jalta zu wiederholen und alte Einflusszonen wieder zurück zugewinnen.

2020-07-08T00:12:35+00:00