Moskau jagt Professor Piwowarow

Jurij Piwowarow sei eine der bemerkenswertesten Persönlichkeiten der zeitgenössischen russischen Geschichtswissenschaft, schreibt die BBC-Korrespondentin Anastasia Lotareva über den Mann, der heute, am 6. Juli, in Moskau in Abwesenheit zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Der Wissenschaftler lebt zurzeit in Deutschland, wo er die Folgen einer Tumoroperation behandeln lässt. Sollte er der russischen Justiz in die Hände fallen, wird der 72-Jährige zunächst für zwei Monate in Untersuchungshaft gesperrt. Eine Verurteilung zu mehrjähriger Lagerhaft wegen vorfabrizierter Beschuldigungen darf als sicher angenommen werden.
Piwowarow ist Professor gleich an drei renommierten Universitäten: der Moskauer staatlichen Universität (MGU), dem Moskauer staatlichen Institut für internationale Beziehungen (MGIMO) und der Russischen Staatlichen Universität. Er ist Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, Autor zahlreicher Monographien und Träger internationaler Auszeichnungen.
Dabei bewahrte der Wissenschaftler seine eigene Meinung, unabhängig von staatlichen Einflüssen. So wandte er sich beispielsweise im Jahr 2014 gegen die Okkupation der Krim durch Russland. Als Historiker und exzellenter Kenner der neueren europäischen Geschichte geriet er zwangsläufig in Konflikt mit dem selbsternannten „Geschichtsexperten“ Wladimir Putin. Oder wie Piwowarow es ausdrückt: „Ich habe kein Problem mit Putin, Putin hat ein Problem mit mir.“
Die Folge waren zunehmende Nachstellungen der russischen Behörden. Im Januar 2015 brannte die Bibliothek des Instituts für wissenschaftliche Informationen über Sozialwissenschaften (INION) der Russischen Akademie der Wissenschaften im Südwesten Moskaus ab. „Das architektonische Denkmal brannte 27 Stunden lang, das Feuer zerstörte mehr als 5 Millionen verschiedene Publikationen, viele davon einzigartig und unwiederbringlich. Viele Wissenschaftler und städtische Naturschützer vermuteten, dass das Feuer gelegt worden war“ schreibt die Journalistin Lotareva.
Doch die Gelegenheit schien günstig, um einen kritischen Geist mundtot zu machen. Denn Piwowarow „war nie besonders zurückhaltend, wenn es darum ging, seine Ansichten zu äußern und die Lage in Russland zu bewerten, auch wenn er dies eher auf akademische als auf politische Weise tat. Er gab freimütige Interviews, war ein Vertrauter des Oppositionspolitikers Grigori Jawlinski.“ Gegen Piwowarow, den damaligen Direktor des INION, „wurde ein Strafverfahren wegen Fahrlässigkeit eingeleitet“, das ergebnislos blieb. „Zwei Jahre später kam ein zweites Strafverfahren, diesmal wegen Betrugs, hinzu.“ Die Untersuchung habe ergeben, dass mehrere Mitarbeiter des Instituts Gehälter erhielten, „ohne tatsächlich zu arbeiten”, hieß es in der Anklage. Wie genau die Untersuchungsrichter festgestellt hatten, dass die Wissenschaftler „keine Arbeit geleistet“ haben und wie dies bewertet wurde, wurde nicht mitgeteilt. Stattdessen wurde Piwowarow beschuldigt, über zehn Jahre hinweg anderthalb Millionen Rubel gestohlen zu haben. Beweise? Keine.
Der Fahndungseifer der russischen Ermittler ist auch nach vielen erfolglosen Jahren nicht erloschen. Piwowarow ist immer noch höchst unbequem. Im Februar 2022, unmittelbar nach Moskaus Überfall auf die Ukraine, trat er zusammen mit Politikern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens dem Antikriegsausschuss Russlands bei. „Wir betrachten das Vorgehen des Kremls als Verrat am russischen Volk und an den nationalen Interessen Russlands sowie als Schändung des Gedenkens an mehr als 26 Millionen Sowjetbürger, die im Großen Vaterländischen Krieg gefallen sind”, heißt es in einer von Piwowarow unterzeichneten Erklärung des Komitees, zu dem auch der Ex-Yukos-Chef Michail Chodorkowskij und der Ex-Schachweltmeister Gary Kasparow gehören.

2022-07-06T16:03:48+00:00