Der Beitrag von Kerstin Decker vom 25. Juli auf der Seite Drei des “Tagesspiegels” hat mich zu ein paar Einwürfen angeregt.
1. Auch ich, ein Ostdeutscher, bin für eine neue Annäherung. Eine Annäherung Russlands an die Europäische Union und an Deutschland. Leider sehe ich dafür keine Anzeichen. Im Juni war ich in Moskau, sprach unter anderem mit Fjodor Lukjanow, dem Herausgeber des außenpolitischen Journals „Russia in global Affairs“ und Vorsitzenden des Rates für Außen- und Sicherheitspolitik der Russischen Föderation, der den Kreml in diesen Fragen berät. Auf meine Frage, was denn die EU tun müsste, damit sich die Beziehungen wieder verbessern, sagte er schlicht: „Für Russland wäre es sehr viel angenehmer, wenn sich die EU, die sich in den 2000er Jahren herausgebildet hat, wieder in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts (zurück)transformieren würde: Ein gemeinsamer Markt, gemeinsame ökonomische Mechanismen, aber ein hohes Niveau politischer Autonomie, und die Abwesenheit alles Zentralisierten.“ Also mehr Möglichkeiten für ein Teile-und Herrsche. Da dies, wie ich hoffe, nicht passieren wird, gibt es also ein großes Problem für die Annäherung. Und das liegt nicht im Westen. Grigori Jawlinskij von der oppositionellen Jabloko-Partei empfahl mir in dem Zusammenhang: „Bleibt stark, geschlossen und konsequent. Dann werdet Ihr die besten Beziehungen zu Russland haben. Denn Putin achtet nur die Stärke, ein Zurückweichen bringt Euch außer Verachtung nichts.“ Gespräche im heißen Juni 2019 in Moskau.
2. Auch ich liebe den Film „Die Kraniche ziehen“. Die Autorin verbindet die Erinnerung daran mit einer Geschichtsklitterung: „Es ist der 21. Juni 1941, der letzte Abend im Frieden, und keiner weiß es.“ Sie vergaß zu erwähnen, dass der Krieg bereits am 1. September 1939 begonnen hatte (wovon der Sowjetbürger allerdings wenig bis nichts wusste), dass die SU und Hitler-Deutschland in zwei Kriegsjahren Verbündete waren, untereinander Polen aufteilten, die Sowjetunion eifrig alle Verpflichtungen zu Lieferungen kriegswichtiger Güter erfüllt und Stalin sich mit deutscher Genehmigung 1940 das Baltikum einverleiben durfte. Unvergessen (für einige offenbar doch) sind auch Stalins Glückwünsche an Hitler anlässlich der Einnahme von Paris durch deutsche Truppen im Juni 1940.
Putin habe maßvoll auf den Nato-Beitritt der Balten reagiert, zitiert sie völlig unkritisch ihren Leipziger Gesprächspartner. Als ob der Kremlchef sich vor dem Hintergrund der sowjetischen Okkupation der baltischen Staaten von 1940 sein Veto anmaßen dürfte, wen sie sich heute zum Partner erwählen.
3. Angeblich tun Europäer und Amerikaner so, als hätten sie den Krieg allein gewonnen (was sie nicht tun), „und die zugleich Sanktionen gegen Russland verhängen“. Das ist eine bemerkenswerte demagogische Volte, denn, das weiß auch die Autorin, die Sanktionen haben natürlich nichts zu tun mit dem II. WK. Sie wurden verhängt, weil sich Moskau an dem Territorium eines OSZE-Staates vergriffen hat und Krieg gegen ihn führt. Sie haben nichts zu tun mit dem Ausgang des zweiten Weltkrieges, zu dessen siegreichen Ende die Sowjetunion entscheidend beigetragen hat.
Auch wenn Putin das heute anders sieht. Er hat den Begriff der Sowjetunion bereits ausgetauscht durch Russland, damit den Sieg im Kriege nationalisiert und den Beitrag der anderen sowjetischen Völker gestrichen (kann man alles auf www.kremlin.ru nachlesen, wenn man denn will). Und mit diesem kleinen Kunstgriff wurde der Zerfall der Sowjetunion zu einem gewaltigen ökonomischen, territorialen und menschlichen Verlust für Russland erklärt, dem ja diese abgefallenen Unionsrepubliken eigentlich gehörten. Hat schon mal jemand darüber nachgedacht, wie die „russischen Verluste“ (Ukraine, Belarus, Kasachstan und die anderen Unionsrepubliken) sich mit dieser putinschen Geschichtsfälschung fühlen mögen?
4. Die Krim urrussisch? Das ist lächerlich, auch wenn sie von Zarin Katharina 1783 okkupiert und „für alle Zeiten“ dem russischen Imperium einverleibt wurde. Wenn die Krim etwas ist, dann ist sie urtatarisch. Völkerrechtlich indes, auch von Verträgen abgesegnet, die Putin unterzeichnet hat, ist sie heute ukrainisch.
5. Schorlemmers Gleichnis, was wäre, wenn Russland in Mexiko ein Raketenabwehrsystem installieren würde und behauptete, es sei nicht gegen die USA gerichtet, sollten wir erörtern, wenn die Mexikaner Russland einladen sollten. Die Polen und die Rumänen haben die USA darum gebeten. Es ist nicht an den Deutschen, Osteuropäer zu belehren, wie sie leben sollen.
6. Die Entspannungspolitik sei die „zentrale historische Erfahrung der Ostdeutschen“, sie sei „nicht widerrufbar, nicht löschbar, nicht einmal relativierbar“, behauptet die Autorin im Brustton der Überzeugung, keinen Widerspruch zulassend, um zu begründen,warum man heute auf Russland zugehen müsse. Das habe ja schon einmal geklappt.
Auch dieser Versuch, eine historische Parallele für aktuelle Politik zu nutzen, geht in die Irre. Damals standen sich zwei Blöcke gegenüber, die den Status quo stabilisieren wollten. Heute haben wir ein Russland, das genau das nicht mehr will. Es will den für Moskau unerfreulichen Zustand verändern. Damals hieß es Wandel durch Annäherung (Egon Bahr ist der Autor), heute propagieren Kerstin Deckers Gesprächspartner die Annäherung ohne Wandel und sogar dann, wenn es einen Wandel zum Schlechteren gibt. „Bahrs Formel fällt verdächtigerweise immer dann, wenn begründet werden soll, warum eine offensichtliche Demütigung, ein Vertragsbruch, eine Menschenrechtsverletzung durch einen Partner ohne Konsequenzen bleibt“, erkannten Kollegen von der „Zeit“ schon 2013, da war die Krim noch nicht von Russland okkupiert.
7. Unerträglich ist die Attitüde der von der Autorin so liebevoll umarmte Bürgerinitiative aus Leipzig, die den Anspruch erhebt, für alle Sachsen, für alle Ostdeutschen zu sprechen. Das trifft nur zu, wenn man die Einheitsfront aus Linken, Pegida („Putin, hilf“), Sachsen-CDU, Teilen der SPD und der AfD zur authentischen Stimme des deutschen Ostens hochstilisiert. Aber das ist sie nicht.