Endlich! Endlich kann Russland sich gegen ausländische Einmischungen wehren, wie es dringend notwendig sei, freute sich Wjatscheslaw Wolodin, Vorsitzender der russischen Staatsduma. Denn mit der Annahme der Verfassungsänderungen – das sogenannte Referendum verlief unter sehr zweifelhaften Umständen, wobei eine Zustimmung von knapp 78 Prozent der abgegebenen Stimmen zustande kam – sei die Oberhoheit der russischen Verfassung über internationales Recht wieder hergestellt worden. Präsident Putin unterschrieb am 3.7.2020 den Erlass. Am 4. 7. 2020 trat das geänderte Grundgesetz in Kraft. Nun, jubelte Wolodin, ein treuer Parteigänger des Kremlchefs, werde es dem Präsidenten endlich möglich sein, Russlands „Souveränität ohne Rücksichtnahme zu verteidigen“. Und zwar mindestens bis zum Jahr 2036. Denn so lange darf Putin nun im Amt bleiben, wenn er die Wahl 2024 gewinnt, weil alle seine bisherigen Amtszeiten auf Null gesetzt wurden. Wolodin zufolge darf Putin in der neuen Phase, befreit von den Fesseln der alten russischen Verfassung, die ihn daran gehindert hätten, das Land zu verteidigen, endlich „viele Fragen im Interesse unseres Staates lösen“.
Doch das stimmt so nicht. Ich gestehe, dass ich das zunächst selbst nicht bemerkt hatte. Mit Wjatscheslaw Wolodin, dem Duma-Vorsitzenden, befand ich mich allerdings in prominenter, wenn auch zweifelhafter Gesellschaft. Die weithin als gegeben angenommene Änderung dieses Verfassungsartikels hat es nie gegeben. Dabei hatte Präsident Wladimir Putin zu Jahresbeginn noch verkündet, dass u. a. die Oberhoheit des internationalen Völkerrechts über die russische Gesetzgebung, wie sie in der Jelzinschen Verfassung von 1993 festgeschrieben worden war, abgeschafft gehöre. In der Annahme, diese Veränderung gehöre auch zu den über 200 Änderungen und Zusätzen, über die im sogenannten Referendum im Block abzustimmen war, gingen die Einwohner der Russischen Föderation an die Wahlurnen.
Allerdings war diese vom Kremlchef als wichtige Neuerung genannte Verfassungsänderung da schon nicht mehr existent, ohne dass das bemerkt wurde. Vielmehr fand sich in Artikel 14, Absatz vier, wortwörtlich der Passus, der so auch schon im alten Grundgesetz gestanden hatte: „Die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und der internationalen Abkommen der Russischen Föderation sind ein integraler Bestandteil ihres Rechtssystems. Wenn ein internationales Abkommen der Russischen Föderation Regeln festlegt, die von den gesetzlich festgelegten abweichen, gelten die Regeln des internationalen Abkommens.“ (http://duma.gov.ru/news/48953/)
Putin hatte das ändern wollen, ließ aber diese angekündigte Veränderung stillschweigend unter den Tisch fallen. Denn der Passus gehört zu den Teilen der russischen Verfassung, die eine komplette Neufassung des Grundgesetzes einschließlich langwieriger Debatten und Abstimmungsprozeduren im Parlament über jeden einzelnen Artikel erfordert hätten. Das war dem Kremlchef offenbar zu aufwändig. Er hatte es eilig, sich die Möglichkeit zu einer deutlichen Verlängerung seiner Amtszeit zu eröffnen.
Die Freude russischer Propagandisten über den gelungenen Coup mit den Verfassungsänderungen wird, trotz der errechneten hohen Zustimmungsrate, nicht von allen russischen Bürgern geteilt. Viele sehen in der jetzt durchgesetzten Verfassung eine Art Ermächtigungsgesetz für den Kremlchef, sie nennen den Vorgang einen “Staatsstreich”.
Quelle: https://rg.ru/2020/07/02/volodin-teper-smozhem-bez-ogliadki-zashchishchat-suverenitet.html?utm_referrer=https%3A%2F%2Fzen.yandex.com.